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AutorenbildSven Sebastian

Streu einfach ein bisschen Glitzer drauf! | Toxische Positivität

Aktualisiert: 29. Juli 2022

„Toxische“ Positivität baut den Druck auf, sich so zu verhalten, als wäre alles in Ordnung und fördert die Angst, verurteilt zu werden, wenn die Dinge einmal nicht so laufen wie sie laufen sollten.

Letztendlich kann das Vermeiden von Gefühlen dazu führen, dass du dich noch schlechter fühlst. Oder sich deine Emotionen regelrecht anstauen und am Ende einen anderen Kanal finden.


„Ach komm, ist doch nicht so schlimm“

„Denk daran, das Glas ist halb voll“

„Das wird schon wieder“


Ratschläge, die du sicher schon einmal bekommen, aber auch gegeben hast.

Oft in bester Absicht, nach dem Motto „Kopf hoch, auf Regen folgt Sonnenschein“, um einen Freund aufzuheitern.

Manchmal vielleicht, weil du einfach nur genervt warst von dem immer mies gelaunten Kollegen und ihn schnell ruhigstellen wolltest.


Es gibt eine ganze Industrie, die mit plüschigen Kissen „Keep smiling“ verkündet und mit XXL Wandtapeten und Sprüchen wie „Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade daraus!“ Geld verdient.


Fakt ist, solche Aussagen, so nett sie auch gemeint sind, sind nicht immer hilfreich.

Sehr oft sind sie sogar schädlich.



Übertriebener Optimismus kann toxisch sein

Natürlich gibt es hierfür bereits ein Fachwort: toxische Positivität (toxisch ist ja so etwas wie das neue „mega“, nur eben in die negative Richtung. Das die zu häufige Verwendung von toxisch auch toxisch sein kann, ist ein anderes Thema ;).

Toxische Positivität meint fehl platzierter oder übertriebener Optimismus, der darauf ausgelegt ist, negative Gefühle zu vermeiden.


Manch einer wird jetzt vielleicht denken „Aber ist das nicht genau das, was du vorschlägst? Negative Gedanken stoppen und weiter geht‘s?“


Ähm, nein. Ich möchte nicht, dass du deine Emotionen einfach so wegwischst, dir selbst sagst, „Ach was, halb so schlimm, geht immer weiter.“ Und am Ende mit einem Lächeln im Gesicht auf die Klippe zuläufst.



Sowieso kannst du dein Gehirn nicht austricksen!

Es wird dir eine plötzliche 180° Drehung nicht einfach so abnehmen und sagen:

„Ach, hast recht, gerade hatte ich zwar noch richtig Angst, dass wir unseren Job verlieren und sozial abstürzen. Aber halb so schlimm, es geht doch immer weiter. Auf der Straße ist es ja auch schön, besonders jetzt im Sommer. Ich glaube, wir haben da auch noch diesen Thermoschlafsack im Keller und campen haben wir doch schon immer geliebt.“


So funktioniert das nicht.

Du kannst dir nicht einfach etwas schönreden.

Und erst recht nicht deinem Gehirn!


Manchmal ist es auch alles verdammt sch***

Und das darf es auch sein.

Und du darfst dich so fühlen.


Es liegt auch nicht alles in deiner Hand. Im Alltag gibt es für jeden Zwänge und Notwendigkeiten. Unausweichliches, Unvorhergesehnes passiert uns allen einmal. So ist das Leben, komplex, vielfältig, überraschend, manchmal leicht, das andere Mal einfach schwer und belastend. Vieles, was passiert, entzieht sich unserer direkten Einflussnahme.

Wie zum Beispiel eine Pandemie.

Viele Menschen haben in den letzten Jahren um ihre Existenz gekämpft, mussten ihr Geschäft vielleicht ganz einstellen. Denen zu sagen „Bleib doch mal positiv, alles hat auch sein Gutes. Jetzt ist Zeit für was Neues!“, ist, als würde man jemanden auslachen, wenn er hingefallen ist.


Diese „toxische“ Positivität baut den Druck auf, sich so zu verhalten, als wäre alles in Ordnung und fördert die Angst, verurteilt zu werden, wenn die Dinge einmal nicht so laufen wie sie laufen sollten.


Letztendlich kann das Vermeiden von Gefühlen dazu führen, dass du dich noch schlechter fühlst. Oder sich deine Emotionen regelrecht anstauen und am Ende einen anderen Kanal finden.


Hast du es schon einmal mit einem Dankbarkeitstagebuch versucht?

Wenn dann noch der zusammenhangslose Tipp von der Seite kommt: „Hast du es schon mal mit einem Dankbarkeitstagebuch versucht? Weißt du, es gibt so viele Dinge, für die wir dankbar sein können! Gerade du, guck mal, was du alles hast!“ fühlen wir uns noch schlechter.

Weil es natürlich viele Dinge gibt, für die wir dankbar sein können, für die wir auch dankbar sind. Wir uns also definitiv nicht schlecht fühlen sollten… Und doch tun wir es. Wir kleinen Memmen.


Verstehe mich bitte nicht falsch, ich bin nicht gegen Dankbarkeitstagebücher. Auch ich nutze es als wichtiges Element in einigen meiner Coachings sowie für mich selbst. Denn das menschliche Gehirn „vergisst“ schon einmal das, was gelingt, Erfolg bringt, immer für einen da ist. Wir gewöhnen uns schnell an die guten Dinge im Leben, fließend Wasser zu haben, dazu noch Trinkwasser, ist für unser Gehirn selbstverständlich geworden. Wir wundern uns nur, wenn es das nicht mehr gibt. Daher ist es hilfreich und gut, sich, beziehungsweise sein Gehirn, hin und wieder mit Hilfe eines Dankbarkeitstagebuchs an das zu erinnern, was wir bereits geschafft haben und über das es sich lohnt, sich immer wieder und wieder zu freuen.


Aber dieses Vorgehen, das „sich bewusst erinnern an die guten Dinge im Leben", ist eben nicht die Lösung für alles. Als ein Tool kann es dich auf deinem Weg unterstützen und ein Schlüssel zum eigenen Glück werden.

Du wirst dadurch mit der Zeit lernen, deinen Fokus mehr und mehr auf real-positive Dinge zu lenken.

Aber auch mit einem Dankbarkeitstagebuch wird es noch Situationen geben, in denen du dich ärgerst, in denen du wütend oder traurig bist.


Und in denen es okay ist, genau das zu sein.



Schau in das Auge des Taifuns

Ich nenne das in meinen Brain-Based-Coaching Sitzungen immer „In das Auge des Taifuns deines Lebens schauen.“ und dem Sturm, der Gewalt und Kraft des Ungewissen, Ärgerlichem, Enttäuschendem und auch Ängstlichem für einen Moment psycho-emotional und kognitiv standhalten.


Schwierig wird es allerdings, wenn dein Gedankenkarussell sich kaum noch aufhört zu drehen, wenn es sich verselbständigt und ein negatives Erlebnis oder Gefühl einen ganzen Tsunami auslösen kann.


Dann ist es Zeit zu sagen: Stopp!

Was ist hier eigentlich gerade los?

Ärgere ich mich gerade noch über das, was mir soeben passiert ist oder fängt mein Gehirn an zu Katastrophisieren, schwarz-weiß zu denken oder, oder, oder…

Und: Sind meine Gedanken wirklich wahr?

Gibt es noch andere Möglichkeiten wie ich darüber denken könnte?


Verschaffe dir einen realistischen Überblick

Statt also den Hebel von negativ auf positiv umzustellen, versuche dir einen realistischen Überblick zu verschaffen. Menschen, die sich verloren, mißverstanden, ausgegrenzt, machtlos usw. fühlen, die unbändige Angst und Sorgen haben, brauchen vor allem und als erstes eins: Einen Halt, Boden unter den Füßen, eine Orientierung, die Gewissheit, dass es trotz der Krise weitergeht! Die Dinge wieder in Bewegung kommen. Das alles aber nicht irgendwie! Sondern Hand in Hand, mit gemeinsamer Rückendeckung, mutigem Blick nach vorn, aber auch mit Trost, Mitgefühl und gesunder Empathie!


Manchmal kann es auch helfen, für einen Moment den Fokus zu ändern.

Also zu gucken, was gibt es denn gerade, was gut ist, was mir gut tut?

Kann ich meine Sinne auf etwas anderes richten?

Etwas, das vielleicht sogar „schön“ ist?

Auch hier heißt es nicht, etwas ins Positive zu verdrehen oder die Augen vor den Problemen zu verschließen.

Ein kaputter Kühlschrank, in Zeiten, in denen es finanziell sowieso schon schwierig ist, repariert sich nicht von selbst, wenn du kurz durchatmest und an einer Zitrone riechst.


Ein bewusster kurzer (positiver) Impuls kann dir aber zumindest dabei helfen, deine Gedanken kurz in eine andere Richtung zu lenken und nicht sofort mit einer Flatrate ins negative Gedankenkarussell einzusteigen.

Danach ist der Kühlschrank immer noch kaputt, aber es wird einfacher sein in konstruktiven Lösungen zu denken.


Und genau das ist es, was wir brauchen; konstruktive Lösungen, Ehrlichkeit (unseren Emotionen gegenüber) und gesunde Empathie!

Für uns selbst, in unseren Beziehungen und in der Gesellschaft.



Ach, das geht noch - streu einfach ein bisschen Glitzer drauf!

Weder der kaputte Kühlschrank, noch Krankheit, Rassismus oder soziale Ungerechtigkeit lassen sich leider ausschließlich mit positivem Denken und Manifestationen überwinden, wie es uns einige Zweige der Wellness- und „spirituellen“ Selbsthilfeindustrie weiß machen wollen.


Es ist ungerecht und nicht förderlich Menschen zu sagen: „Das ist dein Problem, und wenn du nur ein bisschen positiver wärst, könntest du es lösen."


Ja, es ist wahr: so wie wir denken, so werden wir auch leben. Aber wer will schon in einem 24/7 Disneyland leben? Ganz nach dem Motto: „Wie, das Sozialschloss von nebenan müsste mal saniert werden? Ach Quatsch, mach doch einfach ein bisschen Glitzer drauf und schon sieht die Welt ganz anders aus!“


Wir alle brauchen sie: negative Emotionen. Die Kunst liegt darin, diese zu erkennen, zu verstehen, aus diesen zu lernen und nicht in gewohnte negative Gedankenschleifen zu verfallen. Nur so können wir uns weiterentwickeln.


Deshalb: lasst uns ehrlicher sein, lasst uns einander zuhören und gesundes Mitgefühl zeigen, aber auch einmal denken dürfen „Das ist doch alles gerade ein riesiger Mist, was hier passiert“. Um dann gemeinsam Lösungen zu finden und ganz real positiv in diesem Moment zusammen sein zu können!


In diesem Sinne:

Auf die Wut, auf die Traurigkeit und das Glück des Lebendigseins!



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